Donnerstag, 23. Februar 2006

The Revolution will not be blogged

“The new power lies in the codes of information and in the images of representation around which societies organize their institutions, and people build their lives, and decide their behaviour. The sites of this power are people’s minds.”(96)
Manuel Castells


Die Leerstelle, die durch die alleinige Verwendung der Kalenderanordnung in Blogs besteht, nämlich die, dass die Subjekte zwar in der Zeit, aber nicht im Raum verortet werden, löst sich durch die Protokollerweiterungen und Apparate, die Blogs zu Moblogs machen. Mittels Mobiltelefonen, die Fotos und Videos aufzeichnen, und diese ins Internet versenden können, eröffnet sich wieder eine Möglichkeit den Wunsch zur Sichtbarkeit in Verdienstwege zu leiten.2
Blogs die neben den persönlichen Weltanschauungen zudem -ansichten und Satellitenaufnahmen verwenden, um die Position des Bloggers per GPS – oder Galileo – zu bestimmen und zu markieren, tragen noch mehr zu diesem Trend bei, beständig von sich Rechenschaft zu geben.3 Dafür verwendete Sattelitenbilder und Karten, wie sie beispielsweise von Google angeboten werden,4 bewirken wiederum ein anderes Sichtbarkeitsregime und Wahrheitsspiel, das auch in anderen Medien einen Aufschwung erlebte, um verschiedene Phänomene wie z.B. Klimaveränderungen oder Sicherheitswesen, zu erklären.5
Dadurch wird das Problem gelöst, nicht überall und zu jeder Zeit mitteilen zu können, wo man ist, was man sieht, was man hört oder was man denkt. Advanced smartphones bringen mehr Anschaulichkeit und Mobilität ins Spiel,

“um den Menschen die Möglichkeit zu geben, diese wertvollen Momente einzufangen und zu teilen, um kommunikative Inhalte und eine Evolution von Erinnerungen anbieten zu können, die in eine Hosentasche passen, und von deinen Freunden, der Familie oder Kollegen gesehen werden können.“6

Die „Evolution der Erinnerungen“ in der Hosentasche ist eine medienhistorische und für jedes Medium und jede Medienverbünde speziell zu analysierende. Ob von einer „Evolution“ gesprochen werden kann bleibt nachzuweisen. So sind “Medien [gerade nicht, M.S.] von zweitrangiger Bedeutung”7, wenn es um die Verstreuung von Vergangenheit geht.

„Der Stand der Analogtechnik - man denke an Photographie, Film und Tonband - endete hier bei der bloßen Speicherung von Information. Sie blieb, anthropomorph ausgedrückt, Gedächtnistechnik. Die Informationstechnik bringt den Übergang zur Erinnerungstechnik. Sie automatisiert das Aufsuchen, Wiedererkennen und Zurückholen der gespeicherten Gehalte. (…) Der Effekt ist nicht minder revolutionär: er bedeutet eine Verwischung des Unterschieds räumlicher und zeitlicher Distanz.“8

Die Frage nach Medienzeichen in der Kommunikation, fällt mit der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft zusammen. Medienwissenschaft ist per se auf die Reflexion ihrer Wissenschaftlichkeit als unendliche Schreibarbeit angewiesen. Sie ist ein Sammeln und Archivieren von Medienerscheinungen, wie z.B. Erinnerungstechniken, die analysiert werden müssen, um wiederum in die Reflexion der Grundlagen einzufließen.9
Die medialen Möglichkeiten der Wissenschaft und ihr Programm ’Reputation durch Publikation’ in Blogs wären folgendermaßen noch zu erforschen.10

Nicht nur in der Wissenschaft, sondern insgesamt in einer demokratischen Gesellschaft, ist davon auszugehen, dass die Meinungsfreiheit der Bürger nicht unterdrückt wird. In geregelter Freiheitsberaubung kann behauptet werden, dass

„die Staatsbürger/innen als personale Medien in der Art von verschachtelten Black Boxes(…) diesen Staat konstituieren, um so in geregelte Bahnen zu lenken, wie in selbige gelenkt zu werden. Der Staat – als Vereinheitlichung von Differenzen und Differenzierung von Vereinheitlichungen – wäre also die Gesamtheit seiner Bürger/innen, denen er gehört und also auch gehorchen kann, sofern z.B. Tele-, Mega- oder Mikrophone als mediale Infrastrukturen zur Verfügung stehen, um Ohren mit Mündern störend zu verbinden und zu verschalten.“11

Die demokratische Wahl jedes Einzelnen kann medienwissenschaftlich noch nicht geklärt werden, und so bleiben die Bedingungen der Entscheidungsprozesse im Dunkeln. Doch wie der Staat durch mediale Verknüpfungen mit dem republikanischen Programm der Verfassung demokratisch fortgesetzt werden kann, so ist das Internet durch überstaatliche Regelungen programmiert, und erlaubt bei Bedarf den Usern sich in multimedialer Verschaltung durch Störungen neu zu konstituieren – noch immer geht es darum, weder zu fürchten noch zu hoffen, sondern darum, sich „neue Waffen zu suchen.“12
Der virtuelle Freitod in einem Netzwerk wie Orkut, der sogenannte orkuticídio13, ein Begriff, der sich vom portugiesischen Wort "suicídio" ableiten, ist vielleicht die neue medienspezifische Geste, die dem Benutzer gestattet wird, um sich abrupt und abweisend aus dem System zu verabschieden. Aus welchen Beweggründen auch immer.
Virtuell ist die Unordnung unwahrscheinlicher als die Ordnung. Das Chaos bleibt digital undenkbar. So existiert eine utopische Freeculture weiterhin nur als ein Traum von der

„Aufhebung der Gesetze und Verbote; das Rasen der Zeit; die respektlose Vermischung der Körper; das Fallen der Masken und der Einsturz der festgelegten und anerkannten Identitäten, unter denen eine ganz andere Wahrheit der Individuen zum Vorschein kommt.“14

Was sICH sehen lassen kann

„Die Sichtbarkeit ist eine Falle.“(80)
Michel Foucault



Das Netz macht sichtbar – oder es tut zumindest so. Individuen und Kollektive. Und sie handeln. Neue Medien muten den Nutzern neue Probleme der Individualisierung zu. Der Selbstbeobachtung, Selbstdarstellung, Reflexion. Identitäten werden konstituiert, werden erlernt. Eigenständigkeit wird provoziert. Ist bewusst oder auch nicht. Das Digitale fängt die materiellen Körper ein, und macht sie identifizierbar. In vielfältigen Verknüpfungen dürfen Subjekte die Grenzen ihrer freien Willen trainieren, um angeeignete Handlungen in neuen Konstellationen und auf für sie bestimmt Plätze auszuleben. Die Konstitutionsbedingungen der Individuen weisen begrenzte Entscheidungen zu. Subjekte werden zugeordnet und dürfen sich adressierbar machen. Nach Interesse, nach Vorlieben, nach Neigungen. Sie werden sichtbar, beschreibbar und beschreiben sich. Ego wird zur Erkenntnis in Relation zum Alter. Neue Umgebungen teilen Erfahrungen zu, die geteilt werden, und als medienspezifische Chroniken erzählt werden. Nicht nur Sprache und Schrift, sondern die eigenmediale Selbstproduktion ist der Ort, an dem sich Geschichte ereignet. Wahrnehmende Organismen verteilen als Zentren ihrer Welten Aufmerksamkeiten. Wenn es dabei auch nicht in erster Linie um den Wunsch der Individuen zur Popularität gehen soll, so kann mit Hilfe Michel Foucaults Begriffs des Dispositivs, und eventuell mittels der Betrachtung von beispielhaften, weit vermittelten Individuen – den Stars – auch die Mehrheit ‚minderer’ Individuum in seiner vielschichtigen Konstruktion verstanden werden.

„Wenn man aus der Perspektive des Starkults auf die Geschichte der Individualität blickt, dann meint ,Individualität der Medien' nicht so sehr eine mögliche medientechnische Konfiguration eines individuellen Mediennutzers, sondern konkret die jeweils anhand verschiedener verfügbarer Medien zur Erscheinung gebrachten Individuen. Erst auf der Plattform der Medien wird Individualität zu einer - beobachtbaren - sozialen Tatsache.“(81)

Individualitäten tauchen als fragile Gebilde in Dispositiven auf, in Anordnungen aus uneinheitlichen und gegensätzlichen Elementen, in denen sich Technologien, Wissensformen, Symbolsysteme, Institutionen und Architekturen, Wahrnehmungsweisen, aber auch Machtverhältnisse und soziale Praktiken vereinen. Auch Blogs funktionieren nur als Zusammenhänge von Apparaten, Wissen, Speicher- und Reproduktionspraktiken, Wirtschaft, Codes, Repräsentationsweisen, Texten. Um Sichtbares und Sagbares vermischen zu können, und um Effekte zu erzeugen, die sich vielmehr in Einzelbetrachtungen als allgemein analysieren lassen. Ein ständiger Prozess. Blogs bieten Subjekten die Möglichkeit der schriftlichen und audiovisuellen Selbstvergewisserung. Auch wenn es dabei nicht um das rigorose Führen eines Tagebuches gehen muss. Bloggen als digitale Mode verlangt nicht mehr nach wirtschaftlicher Legitimation des eigenen Tuns. Die frei zur Verfügung stehende Zeit kann für beliebige Aufmerksamkeiten genutzt werden. Nicht mehr nur zur Eigenkontrolle, sondern um in ungeahntem Ausmaß sichtbar zu werden. Benjamin Franklins Sorge um zeitlich genaueste Effizienz, lotste ihn noch zu folgendem Aufschreibesystem:

„Ich machte mir ein kleines Buch, worin ich jeder der Tugenden eine Seite anwies, linierte jede Seite mit roter Tinte, so dass sie sieben Felder hatte, für jeden Tage der Woche eines (...), um durch ein schwarzes Kreuzchen jeden Fehler anzumerken, den ich mir, nach genauer Prüfung meinerseits, an jedem Tage habe zu schulden kommen lassen. (...) Da die Vorschrift der Ordnung verlangte, dass jeder Teil meines Geschäftes seine zugewiesene Zeit habe, so enthielt eine Seite in meinem Büchlein einen Stundenplan für die Verwendung der 24 Stunden des natürlichen Tages“(82)

Im zeitlich und räumlich ubiquitären Internet sind manche Blogs mit Kalenderordnungen und Tageszeitenangabe nur noch Spielweisen mit einer finanziell wertlos gewordenen Buchführung der Sichtbarkeit, die vielmehr die ‚produktiv verschwendete’ Freizeit, als die organisierte Arbeitszeit dokumentieren. Aber wie Franklins Zeitkonto, geben sie dem ‚Verplanten’ ein Feedback. Die Individualität kann reflektiert und auch korrigiert werden. Die Spuren im Netz können durch die Zugriffsrechte des Einzelnen auf seine veröffentlichen Erzeugnisse verwischt und ausgelöscht werden – so wie jede freie Netzproduktion theoretisch, und mit ihr der Verfasser, sich in digitalen Schaum auflösen kann. So gesehen, also wenn selbsterzeugte Produkte sich nur innerhalb des Internets eine Bedeutung haben und Zusammenhänge schaffen, und außerhalb des Mediums keine Konsequenzen hätten, dann könnte man sagen, das Bloggen ist nur ein (Gesellschafts-)Spiel. Aber wie wir gesehen haben, hat das Bloggen von Meinungen sehr wohl eine Auswirkung, wie z.B. auf Beziehungen oder auf den Beruf, und sowohl private, als auch als öffentlich gedachte Individualitätsbestandteile können die Aufmerksamkeit eines angeschlossenen Beobachters einnehmen. Blogs geben keine strikten aber bequeme Handlungsräume vor, die von vielen Teilnehmern begangen werden. Wenn auch für advanced users teils erweiterte Eingriffaussichten in die Codes bestehen, um sich selbst zu gestalten
Wie im ‚realen Leben’ ist es aber nicht egal, oder es wird vermutlich mit wachsendem Netz zunehmend entscheidender, wo man seine Spuren hinterlässt. Die neue Ökonomie der Sichtbarkeit, die, wenn auch vielleicht nur von einem ‚wirklichen‚ Ort aus, vielerorts, in bestimmten Regelmäßigkeiten, ihre Subjekte in Zeit und Raum markiert, verteilt Zeichen und Symbole, die von einer beständigen Geschäftigkeit erzählen und ein regelmäßiges Protokoll der Anwesenheit verfassen, das bei Einsparung einen Bestand von gespeichertem Daten-Kapital verzeichnet, welches je nach gesellschaftlicher Entwicklung wertvoll oder wertlos angehäuft sein wird.
Es ist egal, ob ein Autor fleißig, oder nur gelegentlich veröffentlicht. Ob er für die Selbstbeschauung, oder mit dem leisen Anliegen erscheint, um – in welcher Form auch immer – ‚entdeckt’ zu werden, und kommunikative Anschlüsse zu legen. Die Produktion von menschlicher Aufmerksamkeit, die untereinander gehandelt wird, macht mehr oder weniger dauerhaft sichtbar und bewirbt den Urheber.
Wobei mehr als nebenbei natürlich auch eine Geschichte der Anonymität, der Rituale der Unwahrheit und der digitalen Maskierung geschrieben wird – ob in Verbindung mit sexuellen Lüsten und Ängsten, oder der Furcht vor der Preisgabe von vertraulichen Daten. Sind die ‚unvertraulichen’ Daten, die ein Subjekt erzeugt, nicht längst schon die aufschlussreicheren?
Die Subjekte werden durch das Erlernen der Computerkommunikation nur indirekt zu gelehrigen Körper, die in einer regelmäßigen Rhetorik der schieren Bewegungslosigkeit vor den Bildschirmen verharren. Die Formung der Körper ist im Netz eine Nebenwirkung. Die umherirrende Masse wurde und wird immateriell organisiert und mit symbolischen, standardisierten Eigenschaften ausgestattet. Das Erforschen der Ausnutzung, der Benutzerbewegung und -quantitäten innerhalb dieser Schranken, wurde zum customer knowing, das personal interests befriedigen soll. Kundenindividuelle Betreuung changiert zwischen automatisierter Erziehung und dem Vorschlag, sich einer Geschmacksgruppe anzupassen. ‚Individuelle’ Extras, die aufgrund einer getroffenen Wahl auf Internetseiten eingebaut werden, organisieren das Klickverhalten nach einer errechneten Nützlichkeit, die zukünftige Entscheidungen kalkuliert und manipuliert. Mit jedem registrierbaren Mausklick arbeitet der ‚Surfer’ für die Ausbeutung seiner eigenen Daten und wird somit indirekt produktiv. Arbeit für Statistik und folgende Programmadaptation. Somit wird das Netz zu einer der „Einrichtungen, die uneingestehlichen Ökonomien gehorchen“(83).
Auch in und durch das Dispositiv der Kommunikation werden bis ins kleinste Detail, Daten-Bewegungen erfassbar, die ständig auf Effizienz überprüft werden können und somit ein instantan gespeichertes Wissen erzeugen.

Weshalb Google an Blogs interessiert ist und das Freundschaftsnetz Orkut unterhält, soll hier nicht weiter hinterfragt werden.(84) Erstaunlich ist jedoch auch bei einem ersten Einblick die Offenheit mit der sich viele Benutzer im Rahmen der Freundschaftssuche beschreiben, sowie das Auftreten ganzer Institutionen, wie auch das meiner brasilianischen Universität, die als ‚Über-Gemeinschaft’ und mit den einzelnen Fakultäten als ‚Unter-Gemeinschaften’ vertreten ist.
Besonders beklemmend sind beim Durchforschen der Gemeinschaften Seiten, auf denen sich aufrechter Faschismus im nicht-faschistischen System mit all seinen Symboliken präsentiert. Die Freiheit macht das Dunkle sichtbar, dass sich in der neuen Kommunikation nicht zu verstecken braucht. Inwieweit Inhalte zensiert oder geahndet werden, bleibt eine problematische Aufgabe für die Netzpolitik.(85)

Software-Systeme verteilen die Individuen nach neuen Regeln und Unordnungen im Raum. In diesem werden sie erkennbar, und gehorchen der Einteilung ihrer Repräsentationen. Blogs sind Produktionsapparate. Apparate die Subjekte produzieren und in denen diese zu Produzenten werden. Dabei muss es nicht um bekannte Begriffe wie ‚Disziplin’ oder ‚Kontrolle’ gehen. Die Technik schafft auch ohne Machtwillen strukturelle Transformationen.

„Sie individualisiert die Körper durch eine Lokalisierung, die sie nicht verwurzelt, sondern in einem Netz von Relationen verteilt und zirkulieren läßt.“(86)

Eine Neuheit, und eventuell eine Fortschritt, ist, dass die Subjekte ihre Klassifizierungen, nach individuellen Einschätzungen von Nutzen, selbst übernommen haben, und – wobei nur aus rechtsstaatlicher Sicht die Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Datenangaben notwendig ist – sich (Ziel-)Gruppen zuordnen.

„Es geht um die Organisation des Vielfältigen, das überschaut und gemeistert, dem eine ‚Ordnung’ verliehen werden muss.“(87)

Michel Foucault beschreibt mit der Ökonomie der Sichtbarkeit speziell einen privilegierten Ort als deren Zentrum, von dem aus Subjekte beobachtet werden können, der aber von diesen nicht eingesehen werden kann. Dies ist der Ort der Machtausübung. Heute, wo es in der Internetkommunikation nicht mehr um disziplinierende Mächtige geht, und diejenigen Rechner die ‚privilegierten Orte’ geworden sind, die Sichtbarkeiten durch Programme bündeln, und daraus gewonnenes Wissen wieder in die Programmierungen einfließen lassen, zeichnet sich eine Tendenz zum Gesehenwerden wollen ab. Die Individuen organisieren sich und werden organisiert. Ohne Anzeichen von gesellschaftlich weitläufiger verbreiteten Ängste vor „ultra-schnellen Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen“, und ohne sich gegen subtile Einschließungen „neue Waffen zu suchen.“ Die überwiegend protestlose Akzeptanz von multifunktionalen Chipkarten oder das bevorstehende Verhängnis biometrischer Registrierungen, werden kaum wahrnehmbar von der Suche nach „Widerstandsformen gegen die Kontrollgesellschaften“(88) begleitet.
Mit der freiwilligen Preisgabe an die Öffentlichkeit erledigt sich eine vorher umständlichere Prüfung der Individuen für unterschiedliche Zwecke. Die Subjekte verschaffen denjenigen, die mit diesen Daten etwas anfangen wollen, freiwillig Antworten, ohne befragt zu werden – wenn dies nicht mittels eines Fragebogens Bedingung für z.B. die Eröffnung eines Blog-accounts ist. Aus eigenem Antrieb dokumentieren sich die Individuen in einem „Netz des Schreibens und der Schrift“ in „einer Unmasse von Dokumenten.“(89)
Gemeinschaftsprogramme werden zur immateriellen Anstalt, die eine beständige Netz-Anamnese durch verschiedene Aufzeichnungsverfahren und Speichersysteme pflegen. Man kümmert sich um die selbstinternierten Benutzer. Auch ohne Gebühren. Das Individuum wird zu einem Fall und ein analysierbares Objekt einer anderen Beziehung, als die, die es auf dem Bildschirm sichtbar anfertigt.

„Die Kontrolle der Arbeitsaktivität kann potentiell individuell und kontinuierlich sein im virtuellen Panopticon der Netzwerkproduktion.”(90)

Wenn Arbeitsprozesse zugleich mit privaten Aktivitäten im selben Netz sichtbar werden, und Arbeiter Konsequenzen aufgrund privater Meinungen befürchten müssen, wird sich das häusliche Zentrum anpassen, und die Benutzer werden sich verstärkt überlegen müssen, was für ein privates Portfolio sie sich anlegen.
In der visuellen Ökonomie ist Kontrolle auch ihre permanente Möglichkeit. Der virtuelle Panoptismus schafft einen Raum

„innerhalb dessen die Individuen in festen Plätzen eingespannt sind, die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden, eine ununterbrochene Schreibarbeit“(91)

die Einzelnen erfasst. Die Personencharakterisierungen, die der Benutzer beispielsweise bei Orkut ausfüllen kann, und die an standardisierte Freundschaftsbücher erinnern, verhelfen zur Registrierung und zur Zuordnung zu einem bereits registrierten Bereich. Ermöglichung von Beziehungen, Einstufung, Aufteilung.

„Um wen handelt es sich? Wohin gehört er? Wodurch ist er zu charakterisieren, woran zu erkennen?“(92)

Das Licht des Bildschirms blendet das sichtbare Subjekt, das im Bereich des Unwissens zu einem Informationsobjekt wird. Nicht im Sinne eines pejorativ gebrauchten Machtbegriffs, sondern mehr als Objekt eines Unternehmens.(93)
Das Unternehmen, die ‚Anbieter’, treten den Gesehenen, die sich untereinander beaufsichtigen können, in einer begrenzten Sichtbarkeit entgegen. Der Ort, der den Überblick über die aufmerksame, sichtbare Vielfalt verschafft, kann von jedem beliebigen Individuum eingenommen werden. Neuerungen im System setzten stets eine

„Maschine für Experimente, zur Veränderung des Verhaltens, zur Dressur und Korrektur von Individuen“(94)

in Gang. Die beobachtbaren Individuen haben aufgrund der dispositiven Mechanismen einen Wissensnachteil. Das Unternehmen sieht mehr als das Publikum, und unterhält dieses Erkenntnisnetz aus akkumulierter Sichtbarkeit nicht aus Nächstenliebe, sondern aus Wachstums- und Mehrungsmotiven.
Free-versions machen den Zugang zum Verwaltungsapparat der Beziehungen, einen gesteigerte Austausch von Aufmerksamkeiten wahrscheinlicher.

„Unter der Oberfläche der Bilder werden in der Tiefe die Körper eingeschlossen. Hinter der großen Abstraktion des Tausches vollzieht sich die minutiöse und konkrete Dressur der nutzbaren Kräfte. Die Kreise der Kommunikation sind die Stützpunkte einer Anhäufung und Zentralisierung des Wissens. (…) Wir sind nicht auf der Bühne und nicht auf den Rängen. Sondern eingeschlossen in das Räderwerk der panoptischen Maschine, das wir selber in Gang halten – jeder ein Rädchen. “(95)

Das Netz dieser Rädchen, die digital und nicht mechanisch takten, will von den Unternehmen mit möglich geringen Kosten, relativ unsichtbar, und intensiv betreut werden. Die Sichtbarkeit der Individuen ist zugleich die veröffentlichte Sichtbarkeit des Unternehmens und dessen Kapital, das größtenteils indirekt über Dritte erworben wird.
Mit zunehmender Etablierung und Akzeptanz des Systems wird es für das Individuum in bestimmten Kreisen immer schwieriger, sich dem Gebrauch zu entziehen. Dies ist der Zwang zur Produktion von Sichtbarkeit. Ebenso das Wissen der Anderen, dass man immer erreichbar und anwesend sein kann, und die Unsichtbarkeit gleichbedeutend mit Unproduktivität ist.

Neues Kapitel…

“In the future, for manv people, real time will be Internet time."(44)
The Sun


"Time is money."
Benjamin Franklin


“Time ain´t money if all you´ve got is time”(45)
Clay Shirky


Wie Flusser im Falle des Telefons bemerkt, handelt sich bei der Telefonnummer um einen nicht redundanten, linearen Code, der jeden einzelnen Teilnehmer einer Nummer zuordnet, und somit die Brüderlichkeit und Gleichheit der kybernetischen Gesellschaft garantiert. Die Kommunikation im Internet, die von solchen Nummerzuordnungen befreit ist – bis auf die Anwahl eines bestimmten Internetanbieters – hält für den Einzelnen variable Nummern bzw. Adressen bereit, die auf eine andere Tendenz als die Eliminierung von Redundanz verweisen. Die Ordnung im Internet ist eine andere als die des Telefonbuchs. Utopien der Computerkommunikation könnten darum den Wunsch beinhalten, die Teilnehmer lokalisierbarer und identifizierbarer zu machen. Nicht zur Kontrolle, sondern aufgrund der, vielleicht demokratischen, Erreichbarkeit. Eine andere Aussicht ist der Aufbruch in die Anonymität und die Möglichkeit zu mehreren Adressen und Identitäten auch außerhalb des Netzes, die den Kommunikationsbenutzer nicht als Ganzheit, sondern als ebenso hybrid, wie in der immateriellen Kommunikation konstruieren. Aber die Tendenz in der Materialität, und der Wunsch den Menschen mit biometrischen Daten zu erfassen, zeigen in eine andere Richtung. Über Veränderungen der politischen Kultur durch die Vernetzungen zu spekulieren ist wenig hilfreich, aber es gibt einige interessante Fälle, die auf die Konstitution einer neuen Form von kritischer Öffentlichkeit verweisen, die bestehende Zensuren, wie z.B. im Falle von Soldaten und Augenzeugen in Kriegsgebieten, als individuelle embedded Blogger, ausschalten können.(46) Andererseits entstehen auch in Blogs durch verschiedene Mechanismen Hürden, die das Veröffentlichen von Standpunkte und Kommentaren einschränken. So verweist die Internet-Enzyklopädie Wikipedia darauf hin:

„Blogger sollten sich der Tatsache bewusst sein, dass Unternehmen bei Einstellungen zunehmend das Internet nach Blogs der Bewerber durchforsten. Dies kann zu Nachteilen für den Bewerber führen.“(47)

Und es sind bereits Fälle bekannt, in denen Firmen die Preisgabe interner Intimitäten sanktionierten.(48)
Die Analyse auf Konsequenzen und nach gesellschaftlichem Potential der Blogs fällt schwer, aufgrund mangelnder Methoden. Jan Schmidt bietet als Beitrag zu den New Media Studies ein kommunikationssoziologisches Modell an, das sich für
andere Disziplinen öffnen will, um die Praktiken des Bloggens wissenschaftlich rahmen zu können.(49) Dieser Modell-Entwurf entspricht dem Ziel seiner Forschung – die zentral eine Falllstudie der Weblog-Community twoday.net beinhaltete – nach der Formulierung eines

„begriffliche(n) Raster(s), um Spezifika der Weblog-Kommunikation zu identifizieren. Eine solche konzeptionelle Grundlage ist besonders dringlich, weil sich mit der Diffusion von Weblogs auch die Einsatzfelder immer mehr differenzieren. Oberbegriffe wie „Weblog“ oder „Bloggen“ können der Vielfalt von Verwendungsweisen nur noch eingeschränkt gerecht werden. Stattdessen, so meine These, müssen Praktiken des Bloggens miteinander verglichen werden, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Gebrauch von Weblogs zu identifizieren.“(50)

Allgemein stellt er fest, dass es sich bei den Praktiken der Weblog-Kommunikation um dreifach gerahmtes soziales Handeln handelt:

„Technische Merkmale, die mehr oder weniger viele Optionen eröffnen, geteilte Vorstellungen und Regeln zum adäquaten Gebrauch von Weblogs, die sich in Form von Adäquanz- und prozeduralen Regeln innerhalb von Verwendungsgemeinschaften äußern, und die hypertextuellen und sozialen Netzwerke, die im Gebrauch entstehen, geben der individuellen Nutzungsepisode einen Rahmen vor, der durch die kommunikativen Handlungen selber wieder bestärkt oder verändert wird.“(51)

In Institutionalisierungsprozessen, die dialektisch einerseits die Herstellung neuer Aktionsoptionen durch technische und soziale Neuerungen, und andererseits die Verfestigung bereits existierender Routinen, Relationen und Codes verarbeiten, bilden sich nach Schmidt in den Weblog-Praktiken, durch und neben den allgemeinen Geschäftsbedingungen, diese Adäquanzregeln und prozeduralen Regeln aus, die Medienwahl und Gebrauch – ebenso die „Netiquette des Bloggens“(52) – bestimmen. So kann mit der Ädequanz Flussers Telefon-These der ungeeigneten Botschaft erklärt werden, wenn man davon ausgeht, dass ein Blog z.B. ungeeignet ist, um Kündigungen an Mitarbeiter zu verschicken.
Die Einzelanalyse der Blog-Praktiken, deren Vergleich und die Abgrenzung zu anderen Kommunikationsgewohnheiten, auch aus netzhistorischer, zeitlicher Sicht, kann nach Schmidt nur der einzig Weg sein, um das junge Phänomen allmählich beschreiben zu können. Ein Vorhaben, das aufgrund der Vielzahl der Blogs enorm, aber nicht unmöglich ist, wenn man sich zunächst beispielsweise an den ersten oder den meistfrequentiertesten Blogs in unterschiedlichen Schwerpunkten orientiert. Vor allem auch die Kombination von Blogs und „social networking tools“, wie Orkut, verschafft ein ergiebiges Forschungsfeld.

Das Internet macht in vielfältiger Hinsicht Kommunikation wahrscheinlich und sorgt für gegenseitige Erreichbarkeiten. So reduziert das Bloggen in Themen und Beiträgen auf wenige programmierte Hintergründe sein mag, so komplex gestalten sich institutionelle Verknüpfungen, differenzierte Praktiken, multimediale Texte und Metatexte. Für das Bloggen ist kein eigener Apparat notwendig. Nur das rauschende Modemsignal erinnert eventuell noch an die Leitung durch das Telefon. Dank flat rate ist eine dauerhafte Anwesenheit möglich. Der Benutzer muss sich nicht mit Programmiersprachen auskennen oder Quelltexte verstehen. Es geht ums Audiovisuelle. Computer anschalten, mit der Maus auswählen, entscheiden, klicken, tippen, einwählen, warten. Seiten und Inhalte erscheinen und aktualisieren sich je nach Verbindung oder Hardware, mit variierenden Geschwindigkeiten. Öffnen, sehen, lesen, schreiben, eingeladen werden, annehmen, registrieren, anmelden, bearbeiten, speichern, suchen, bewerten, hochladen, anfragen, akzeptieren, antworten, kommentieren, runterladen, hören, löschen, abmelden, schließen, auswählen, runterfahren. Neustart.

Die Geste des Bloggens

Ökonomien der Sichtbarkeit

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Ein Hausarbeits-Blog für das Hauptseminar „Televisions- und Telekommunikationsökonomie“ bei Prof. Dr. Matthias Maier von Martin Schlesinger, Medienkultur, Sommersemester 2005, Bauhaus-Universität Weimar

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